Interview mit Jens Voigt

16. Mai 2017

1997 wurde Jens Voigt Profi und gewann Etappen an der Tour de France und im Giro d'Italia. Zudem erzielte er 2014 mit 51,115 Kilometern einen Stundenweltrekord. Bekannt war er zudem für seine offensive und mannschaftsdienliche Fahrweise.

Was machst du seit deinem Karriereende beruflich?  

Seit ich meine aktive Karriere beendet habe, bin ich eigentlich noch aktiver geworden. Mein Hauptberuf ist sicherlich mein Job als Markenbotschafter des Fahrradherstellers Trek. Trek war auch der Titelsponsor meines letzten Teams. Im letzten Jahr bin ich für Trek mehrmals nach Kanada geflogen, mehrere Male in die USA, aber auch einmal nach Chile und nach Brasilien. 

Dazu bin ich Botschafter der Tour Down Under in Australien und der Kalifornien Rundfahrt. Dann habe ich letztes Jahr ein Buch herausgebracht, natürlich über Radsport und mein Leben. 

Ich arbeite mit Zwift zusammen, eine Firma die eine Art virtuelle Realität produziert, um das Hometrainertraining spannender zu gestalten. Und nicht zuletzt habe ich eine kleine Kleidungsfirma SHUTUPLEGS.com für Shirts, Sweatshirts und Radkleidung. Und jedes Jahr im Oktober organisiere ich mein eigenes Radevent in Kalifornien, den Jensie Gran Fondo, ein kleines Stückchen nördlich der Golden Gate Brücke bei San Fransisco. Ich denke, ich reise genauso viel wie als aktiver Radprofi. 

Du hast während vielen Jahren den Radsport miterlebt und auch mitgeprägt. In welchen Bereichen hat er sich am meisten entwickelt?  

Auf der technischen Seite waren es 2 Entwicklungen, die ich herausragend fand. Zuerst die Erfindung der Brems- und Schaltgriffe von Shimano. Das hat unseren Sport verändert, wie wenige technische Neuerungen zuvor. Es hat unseren Sport sicherer gemacht. Niemand muss mehr die Hand vom Lenker nehmen, wenn er schalten möchte. 

Dann die flächendeckende Einführung von Karbon. Das wird jetzt nicht nur beim Rahmenbau eingesetzt, sondern auch bei Sattelstützen, Lenkern, Kurbelarmen oder auch bei den Aero Laufrädern. 

Der Radsport ist grösser, besser, globaler und auch glamouröser geworden. Die Teams haben viel grössere Budgets, die Gehälter aller im Radsport arbeitenden Menschen sind besser geworden. Allerdings ist der Verdrängungswettbewerb zwischen den Fahrern härter geworden. Es gibt ca. 1300 registrierte Profisportler und rund 500 Plätze in der World Tour Kategorie. Das heisst, es konkurrenzieren sich fast drei Fahrer um einen Platz. Das bedeuted eine Menge Stress für alle Beteiligten. 

Eine weitere grosse Veränderung ist, dass alle Fahrer weniger Rennen fahren, dafür aber alle Rennen wichtig sind. In meinem ersten Jahr als Radprofi hatte ich 113 Renntage. Das habe ich nie wieder geschafft. In meinen letzten Jahren hatte ich immer zwischen 85 und 95 Renntagen und war damit immer noch einer der fleissigsten Profis. 

Wie muss man heute im Profiradsport trainieren, wenn man Erfolg haben will? Welches sind die drei wichtigsten Elemente/Punkte?  

Ganz klar geht die Entwicklung weg vom "lang und langsam", wie wir es in der alten DDR gehandhabt haben. Der Trend geht zu individuellen Trainingsplänen und mehr Intervallen. Ich habe in meiner zweiten Karrierehälfte selten eine Trainingseinheit gehabt, ohne irgendein Intervall fahren zu müssen oder fahren zu wollen. Im Herbst und ganz zeitigem Frühjahr wird immer noch lang und langsam gefahren, um Grundlagenausdauer aufzubauen. Aber wenn es dann ins Teamtrainingslager geht, oder die ersten Rennen näherrücken, fahren alle Intervalle. Dabei gibt es zwei Strategien: Zum einen wie ich, der einfach irgendwie alles trainiert hat, um auf alle möglichen Situationen vorbereitet zu sein und sozusagen der Hansdampf in allen Gassen zu sein und zum anderen die Strategie, die Spezialisten wie Marcel Kittel oder Tony Martin verfolgen, die ihre Stärke immer stärker ausbauen wollen und sich weniger um ihre Allroundfähigkeiten kümmern. 

Eine der primitivsten und einfachsten Trainingsformeln ist "Alles, was dir wehtut im Training, macht dich stärker." Natürlich spreche ich nur für mich und vielleicht denken Trainingswissenschaftler ganz anders, aber das sind meine Erfahrungswerte. Beantworte dir selbst eine einfache Frage: Wann und warum werde ich abgehängt? Weil ich nicht 4 Stunden mit einem 41km/h Durchschnitt fahren kann? Weil ich nicht 10 min mit 450 Watt am Berg oder auf der Windkante fahren kann? Weil ich nicht 800 oder 1000 Watt fahren kann, um zur Spitzengruppe vorzuspringen? Weil mich die ständigen Rhythmuswechsel am Berg zermürben? Weil ich nicht am Berg aus dem Sattel gehen kann, ohne dass die Herzfrequenz nach oben schiesst? Wenn du die Antwort für dich gefunden hast, dann arbeite genau an diesem Schwachpunkt, um im nächsten Rennen die Situation zu meistern, die dich sonst immer überfordert hat. 

Viele Hobby-Radsportler starten an Radmarathons wie zum Beispiel dem Ötztaler. Welche Tipps gibst du ihnen mit auf den Weg für ein gutes Gelingen?  

Zuallererst ein Materialcheck in der Woche vor dem Start. Sind die Bremsgummies noch ok? Die Reifen? Kette und Ritzel nicht vergessen. Auch der Sattel ist wichtig, schließlich verbringen wir die meiste Zeit im Sattel. Altes oder zerrupftes Lenkerband sollte gewechselt werden, weil es einfach mehr Spass macht mit einem sauberen und ordentlichem Rad zu fahren. Laufrädercheck: Sind die Speichen fest, aber nicht zu fest? Leute - ohne Quatsch - euer Leben kann von funktionierendem Material abhängen! Nehmt es nicht auf die leichte Schulter. 

Zweitens: Sei einfach ehrlich mit dir selbst und sei realistisch mit deinen Erwartungen und Zielstellungen. Wenn du durch Beruf und Familie zu wenig Zeit zum perfekten Trainieren hattest, dann versuch gar nicht erst in der schnellsten Gruppe mitzufahren. Stell dir einfach alle 20 min die Frage "Kann ich dieses Tempo noch 5 Stunden durchhalten?" Wenn die Antwort nein ist, oder auch nur ein "ich weiss es nicht", dann bist du einfach zu schnell für deine Verhältnisse. 

Drittens: Bring Freunde, Partner oder Familie mit. Fahrt zusammen und unterstützt euch während der Tour. Nicht nur motivationsmässige Unterstützung, sondern auch ganz konkret bei Reifenschäden oder ähnlichem.

Viertens und letztens es soll Spass sein. Es ist dein freies Wochenende. Geniess es und versuch nicht einen Weltrekord bergab aufzustellen. Wir alle wollen nach dem Wochenende heil und gesund zu unseren Familien, Partnern, Kindern und Freunden zurückkehren.

 

 

Foto: ZVG