Interview mit Velo-Trainingsexperte Marcel Wyss

Andreas Gonseth 27. Februar 2023

Der frühere Veloprofi Marcel Wyss fährt äusserst erfolgreich bei Amateur- und Marathonrennen mit und betreut zahlreiche Nachwuchs- und Hobbysportler bei ihren sportlichen Zielen. Der Swiss Olympic Trainer Leistungssport sagt, wie man für Rennen wie L'Étape Switzerland oder Radmarathons trainiert, was ein polarisiertes Training bringt und wie lang ein Intervall höchstens sein sollte.

Du warst acht Jahre lang Veloprofi und hast rund 600 Profirennen bestritten. Auf deiner Website schreibst du, dass du in deiner Karriere als Profi manches falsch gemacht hast. Was waren deine drei Hauptfehler?

Ich war zu dünn und legte zu viel Wert darauf, mein Gewicht zu kontrollieren. Zweitens: Ich habe zu wenig polarisiert trainiert, ich war mehr nach dem Motto «viel bringt viel» unterwegs. Und drittens wäre ich wohl erfolgreicher gewesen, wenn ich bei einzelnen Rundfahrten nicht aufs Gesamtklassement gefahren wäre, sondern mich auf einzelne Etappen konzentriert hätte.

Was sind aus deiner Sicht drei Hauptfehler, welche die meisten Hobbyfahrer falsch machen?

Die gleichen, die ich gemacht habe: Sie trainieren zu wenig polarisiert, gönnen sich zu selten eine Pause und hören zu wenig auf den Körper.

Was genau bedeutet ein polarisiertes Training?

Polarisiert bedeutet, nicht immer mittelstreng unterwegs zu sein, so wie das gefühlsmässig die meisten automatisch machen. Besser ist, wenn man neben den gewohnten mittelstrengen Einheiten möglichst oft wirklich sehr locker und manchmal wirklich sehr anstrengend fährt und nicht dazwischen. Und das etwa im Verhältnis 80% locker im Sprechtempo und 20% hochintensiv.

Als zweiten Fehler benennst du «sich zu selten eine Pause zu gönnen». Durchschnittliche Hobbyfahrer kommen vielleicht auf rund 2000-4000 Kilometer jährlich. Lautet das Motto im Breitensport nicht schlicht: mehr trainieren? 

Man kann seine Leistung mit optimalem Training durchaus steigern, ohne das Volumen zu erhöhen. Bei jährlich 4000 Kilometern sitzt ein Sportler immerhin gesamthaft gut 150 Stunden im Sattel, also während der Saison rund 3-5 Stunden wöchentlich. Aber ja, sicher, ab einem gewissen Punkt und Anspruch geht eine zusätzliche Leistungssteigerung nur mit mehr Trainingsvolumen einher. Wer Freude hat, sollte daher viele Rennen bestreiten, um Erfahrungen zu sammeln, wie man in den wichtigen Situationen Kraft investieren oder eben sparen muss und kann. 

«Zu wenig auf den Körper hören» ist für dich der dritte Hauptfehler. Viele Breitensportler protokollieren alles von Durchschnittstempo, Puls, Frequenz bis Watt. Wie lernt man, auf seinen Körper zu hören?

Indem man sich eben genau nicht ausschliesslich auf die vielen Zahlen abstützt. Wenn man während dem Training ab und zu die Durchschnittsgeschwindigkeit checkt, ist das ganz normal, aber eben auch gefährlich. Denn so hat man die Tendenz, immer möglichst zügig zu fahren, damit der Schnitt genug hoch ist. Vor allem, wenn man seine Daten teilt wie bei Strava, will man immer gut aussehen oder Kudos sammeln, da ist die Gefahr gross, dass man zu wenig polarisiert trainiert, sondern immer streng.

Was empfiehlst du Sportlern, die «nur» nach Gefühl trainieren möchten?

Dann empfehle ich die Regel, dass man auf fünf Trainingseinheiten eine sehr hochintensiv absolviert, zwei im mittelintensiven Bereich fährt und zwei ganz locker und sehr tiefintensiv durchführt. 

Und bei drei Trainings pro Woche?

Da ist die Ampel-Version eine sinnvolle Lösung. Also einmal grün ganz locker, dann orange mittelstreng und einmal rot ganz streng. Auf keinen Fall sollte man alle Farben in jedes Training packen.

Was müssen Hobbyfahrer oder -fahrerinnen können, die bei einem Rennen wie der L'Étape Switzerland erfolgreich sein wollen? 

Sie müssen das Rennen lesen und sich im Fahrerfeld gut bewegen können. 

Was bedeutet das konkret, und vor allem: Wie lernt man das?

Man muss von Beginn weg in einer möglichst schnellen Gruppe unterwegs sein um sich dann allenfalls in die nächste Gruppe zurückfallenzulassen, wenn es zu schnell wird. Dazu muss man das Fahren Ellbogen an Ellbogen und Rad an Rad gewohnt sein. Wenn man bei jeder Bodenwelle oder leichten Kurve abbremst, verliert man zu viel Kraft. Das kann man nur lernen, wenn man Rennen fährt oder in einer Trainingsgruppe unterwegs ist, das erfordert Routine, Vertrauen und einen gewissen Renninstinkt. Bei einer L'Étape ist Windschattenfahren sehr sehr wichtig, man spart damit unglaublich viel Kraft.


Das ausführliche und detaillierte Interview mit Marcel Wyss zu den wichtigsten Trainingsfragen erscheint im kommenden FIT for LIFE Ausgabe 2/2023, erhältlich ab 23. März am Kiosk oder zum Ausprobieren im Schnupperabo (3 Ausgaben für 20 Franken).

Jetzt Schnupperabo bestellen