Dehnen im Ausdauersport: welche Form passt wann?
via Canva.com: Brenda Sangi Arruda
Jahrelang glaubten Athleten und Trainer, dass statisches Dehnen vor und nach dem Training oder Wettkampf wichtig und förderlich für Leistung und Verletzungsprävention sei. Die moderne Sportwissenschaft hat diese Sichtweise jedoch revidiert.
Der alte Weg: Statisches Dehnen vor der körperlichen Aktivität
Statisches Dehnen bedeutet, einen Muskel für eine bestimmte Zeit, meist 15–60 Sekunden, in einer gedehnten Position zu halten. Traditionell wurde dies vor der körperlichen Aktivität gemacht, in der Annahme, dass dadurch Muskeln und Gelenke „gelockert“ werden, was das Verletzungsrisiko senken und die Leistung verbessern kann.
Mehrere Studien haben diese Annahme jedoch infrage gestellt. Forschungsergebnisse zeigen, dass statisches Dehnen vor der Aktivität – besonders wenn die Dehnung länger als 60 Sekunden gehalten wird – die Muskelkraft und -leistung sogar vorübergehend reduzieren kann, was zu einer schlechteren Leistung führt.
Der moderne Ansatz: Dynamisches Aufwärmen vor der körperlichen Aktivität
Die Erkenntnisse zeigen, dass statisches Dehnen keine effektive Methode ist, um den Körper spezifisch auf eine sportliche Aktivität vorzubereiten, insbesondere in Sportarten wie Laufen, Radfahren oder Langlauf.
Anstelle von statischem Dehnen empfiehlt die Sportwissenschaft dynamische Aufwärm- und Aktivierungsübungen vor dem Training oder Wettkampf. Diese beinhalten aktive Bewegungsformen, welche die bevorstehende Aktivität nachahmen und dadurch die Muskulatur gezielt darauf vorbereiten. Häufige Übungen sind Bein- und Armschwünge, Rumpfdrehungen, Ausfallschritte, Arm- und Hüftkreisen oder Lauf-ABC.
Diese bewegungsbasierten Übungen aktivieren die Muskeln, verbessern die Mobilität und erhöhen den Bewegungsumfang, zudem reduzieren sie die Steifheit in Muskeln und Gelenken. Die verbesserte Durchblutung und Wärme helfen den Muskeln, effizienter zu kontrahieren und verringern das Verletzungsrisiko. Zusätzlich verbessern dynamische Aufwärmübungen die Koordination und neuromuskuläre Aktivierung, sodass sich der Körper effizienter bewegen und schneller reagieren kann.
Wichtig: Dynamische Bewegungen sollten nicht der erste Teil der Aktivität sein, sondern in ein umfassendes Warmup eingebettet werden. Zuerst sollte der Körper rund 10 Minuten mit lockerem Joggen oder einer alternativen Sportart „wach“ gemacht werden. Das erhöht die Durchblutung der arbeitenden Muskeln und hebt die Körper- und Muskeltemperatur. Danach ist der Körper bereit für dynamische Übungen, die auf die jeweilige Sportart ausgerichtet sind.
Der richtige Zeitpunkt für statisches Dehnen ist nach der Aktivität
Nach dem Training sind die Muskeln warm und geschmeidig, was statisches Dehnen ideal macht. Ob man unmittelbar nach der Belastung dehnen möchte oder lieber in Ruhe zuhause, ist nicht entscheidend und individuell unterschiedlich.
Dehnen nach der Belastung entspannt Muskeln und Geist gleichermassen, es reduziert Muskelverspannungen und hilft, die Beweglichkeit zu erhalten oder sogar zu verbessern.
Jede Athletin und jeder Athlet sollte sich auf die Muskelgruppen konzentrieren, welche durch die Sportart speziell strapaziert wurden. Beispielsweise sind das im Laufsport die Waden, Quadrizeps, Hamstrings und Hüftbeuger. Es wird empfohlen, statische Dehnungen 20–30 Sekunden zu halten und dabei kontrolliert zu atmen, um Entspannung und Erholung zu fördern. Wichtig: Die Dehnung sollte entspannend wirken und keine Schmerzen verursachen.
Regelmässiges Dehnen nach dem Training kann zudem langfristig die Haltung, das Körpergefühl sowie die Bewegungseffizienz verbessern, was für Langstreckensportler wichtig ist, um kompensatorische Muster und Überlastungsverletzungen zu minimieren.
Vorsicht: Statisches Dehnen ist nicht für alle geeignet
Obwohl Dehnen für viele vorteilhaft ist, sollten Personen mit Gelenkhypermobilität oder Hypermobilitätsspektrumstörungen (HSD) vorsichtig sein. Diese Menschen haben bereits einen übermässigen Bewegungsumfang und häufig Gelenkinstabilitäten. Statisches Dehnen kann diese Instabilität verschärfen und das Verletzungsrisiko erhöhen. Für sie sind Krafttraining und Stabilisationsübungen, die die Gelenkkontrolle und muskuläre Unterstützung verbessern, sinnvoller.
Dehnen ist zudem eine sehr persönliche Sache, es gibt auch zahlreiche Sportlerinnen und Sportler, die nicht gerne dehnen und keinen Nachteil darin sehen.
Kein statisches Dehnen nach einer harten Einheit oder einem Wettkampf
Nach einem sehr intensiven Training oder Wettkampf und auch bei Muskelkater – z. B. nach einem Marathonlauf – sollte man auf Dehnen verzichten, da die Muskeln bereits stark belastet sind. In den Muskelfasern, besonders in den Myofibrillen, sowie in der umliegenden Faszie oder den Sehnenansätzen können mikroskopisch kleine Risse (Mikroverletzungen) entstanden sein. Dehnen in diesem Zustand schadet der Muskulatur mehr, als dass es nützt. Damit die empfindlichen Strukturen nicht weiter belastet werden, werden sie am besten in Ruhe gelassen oder allenfalls mit ganz sanften Bewegungen aktiviert. Nach einer muskulär intensiven Belastung sind andere Regenerationsmethoden wichtig, wie:
- Ausgewogene Ernährung mit genügend Protein und Kohlenhydraten
- Viel Schlaf
- Sanft dosierte Bewegungen wie Schwimmen oder Radfahren
- Wechselbäder oder Wechselduschen (Kontrastduschen, Fussbäder)
- Sauna oder Infrarotsauna
- Ganz sanfte Massage oder Lymphdrainage
- Kompressionskleidung (z. B. Kompressionssocken, Kompressions-Boots) zur Unterstützung der Durchblutung
Fazit
Dehnen spielt für viele Sportlerinnen und Sportler eine wichtige Rolle in ihrem Trainingsalltag, doch es gilt: Der Kontext ist entscheidend, welche Dehnform wann angewendet werden sollte. Im Ausdauersport zu beachten sind:
- Vor Training/Wettkampf: Dynamisches Aufwärmen, kein statisches Dehnen
- Nach Training/Wettkampf: Statisches Dehnen kann die Erholung fördern, aber nicht nach sehr intensiven Einheiten – hier lieber andere Regenerationsmethoden nutzen
- Im Alltag: Statische Dehnformen tragen dazu bei, die Beweglichkeit zu verbessern, in den Körper hineinzuhorchen und ein gutes Körpergefühl zu entwickeln
- Bei Hypermobilität: Fokus auf Stabilisation legen und statisches Dehnen vermeiden
Auch Faszien wollen gedehnt werden
Neben den klassischen Dehnformen rückt auch das Dehnen der Faszien zunehmend in den Vordergrund, insbesondere im Ausdauer- und Kraftsport. Beim faszialen Dehnen stehen ganze myofasziale Ketten im Fokus. Diese funktionellen Verbindungslinien aus Muskeln und Faszien verlaufen über mehrere Gelenke hinweg und werden idealerweise langanhaltend gedehnt (1–3 Minuten oder länger wie beisielsweise beim Yoga). Weitere faszienspezifische Trainingsformen sind:
- myofasziale Selbstmassage (z. B. mit Faszienrollen)
- achtsame, bewusste Bewegungsformen (z. B. Yoga, Feldenkrais, Tai Chi)
All diese Prinzipien verbessern nachweislich die Elastizität, sensorische Funktion und Gleitfähigkeit des faszialen Gewebes.
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