Interview mit Marco Jäger

28. Dezember 2020

Während nahezu 10 Jahren hat Marco Jäger Julien Wanders sorgfältig aufgebaut und zu Europarekorden im 10-km-Strassenlauf und über die Halbmarathon-Distanz geführt. 

Wie würdest du deine Trainingsphilosophie beschreiben?

Ich verfolge einen holistischen Ansatz und bin grundsätzlich der Meinung, dass es jeder motivierte Athlet/jede Athletin mit harter Arbeit, Disziplin, und der nötigen Geduld sehr weit bringen kann. Ich schaue mir jeden Athleten genau an und analysiere, welches seine natürlichen Qualitäten sind. Was ist schon da? Was fehlt? Das Training wird dann an die Anforderungen der Disziplin angepasst, wobei die Intensität über ein realistisches Wettkampfziel gesteuert wird. Das Ziel verfolge und baue ich über das ganze Jahr auf. Dazu kommen natürlich auch das präventive und spezifische Krafttraining (inklusive Sprungkrafttraining), koordinative und lauftechnische Einheiten, die therapeutische und medizinische Betreuung etc.

Trainingstechnisch bin ich eher klassisch unterwegs. Ich mache nichts, was andere nicht auch machen. Ich betone die Stärken, ohne die Schwächen zu vergessen, wobei ich mich vor allem im Langstreckenbereich (Distanzen ab 5000m) sehr stark an die Trainingsmethodik von Renato Canova anlehne. Das bedeutet zum Beispiel, dass ich auch im aeroben Bereich mit verschiedenen (bis zu sieben) Intensitätsstufen sehr stark differenziere, viel variiere und relativ früh vielseitig und komplex trainieren lasse. Speziell ist sicherlich auch, dass ich für die fortgeschrittenen Läufer Qualität und Volumen gleichzeitig betone, weil ich überzeugt bin, dass das zielführend ist. Natürlich immer unter der Bedingung, dass die Voraussetzungen (unter anderem auch die Erholung) dafür gegeben sind.  

Welches sind für dich die drei wichtigsten Schlüssel, die zum Erfolg führen und sich vielleicht auch ein Hobbyläufer zu Nutzen machen könnte? 

  1. Intrinsische Motivation: Nur wer im Innersten bereit ist, den (harten) Weg zu gehen und dabei auch Spass and der Sache hat, wird langfristig Erfolg haben.
  2. Lockerheit: Verbissenheit bringt nichts. Es braucht Lockerheit, damit die Energie fliessen und das volle Potential ausgeschöpft werden kann.
  3. Die Trainingsplanung muss den Umständen, den Qualitäten und den realistischen Zielen des Athleten/der Athletin angepasst sein und nicht umgekehrt. Man sollte nicht einfach Trainingspläne/-einheiten im Internet kopieren...

Anfang Dezember hast du Julien Wanders an Renato Canova übergeben. In welchen Bereichen kann er sich noch weiterentwickeln?

Es war klar, dass ein Trainerwechsel irgendwann anstehen würde, weil Julien früher oder später Marathon laufen wird, und ich dort überhaupt keine Erfahrung habe. Dass es mit Renato Canova geklappt hat, freut mich sehr, ist er doch auch im Marathonbereich eine Koryphäe. Der Übergang sollte einfach sein, weil mein Trainingssystem bereits an ihn angelehnt war und weil die medizinische Betreuung und die bewährten präventiven und spezifischen Krafteinheiten beibehalten werden. Entsprechend werde ich auch weiterhin mit Julien zusammenarbeiten.

In den letzten Jahren waren wir an internationalen Meisterschaftsrennen nicht erfolgreich genug. Mit seiner riesigen Erfahrung wird Renato Canova Julien hoffentlich auf das gewünschte Niveau bringen, indem er zum Beispiel neue Trainingsreize setzt, die Periodisierung anpasst und damit hoffentlich noch bestehende mentale Barrieren aus dem Weg räumt.

Gibt es einen Geheimtipp, den du uns preisgeben kannst?

Der Trainingsreiz ist eigentlich nur der eine Teil des Trainings. Was danach folgt und zur gewünschten Anpassung führen soll, ist ganz entscheidend. Mein Tipp lautet deshalb: Lass dir nach Trainings genügend Zeit und tue alles dafür, dass du dich ausreichend erholst.

Foto: Elite Performance Management