Interview mit Natalia Gemperle

14. Juni 2023

Foto: Rolf Gemperle

Natalia Gemperle hat für ihr Heimatland Russland im OL zwölf WM-Medaillen gewonnen. Seit diesem Jahr ist sie Schweizerin und startet offiziell für die Schweiz.

Unterscheiden sich die Trainingsphilosophien von Russland und der Schweiz?

Trainingsphilosophien gibt es viele und sie unterscheiden sich auch innerhalb von einzelnen Nationen stark. Da muss jeder seine eigene finden.

Was macht OL für dich so faszinierend?

OL ist wie Ralleyfahren. Du musst versuchen, mit maximalem Tempo unterwegs zu sein, gleichzeitig musst du fliegend vorausschauen und kommst an Situationen, wo du abbremsen oder die Route ändern musst. Die Kunst ist, das alles optimal zusammenzubringen, das richtige Mass zwischen Vollgas, Präzision und Dosieren zu finden. In einem OL-Wettkampf kann man vielleicht 80% Vollgas laufen, aber 20% der Zeit muss man dosiert unterwegs sein. Diese 20% richtig zu erwischen, ist die Herausforderung.

Wie setzt sich dein OL-Training zusammen?

Natürlich laufe ich sehr viele Kilometer, im Juni bin ich oft rund 140 km pro Woche gerannt. Das Grundlagentraining absolviere ich meist ohne Karte, dazu kommen viele Intervalle mit Karte und dem Fokus auf Präzision beim Orientieren. Und ich mache viel Krafttraining.

Gibt es spezielle Schlüsseltrainings, die du immer wieder machst?

Bei mir ist sicher das Krafttraining ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg. Aber natürlich nicht immer dasselbe, sondern immer wieder neue Übungen. Fürs Fitness- und Krafttraining habe ich einen eigenen Coach. Für mich ist ein umfassendes Krafttraining vor allem eine wichtige Verletzungsprophylaxe, nach der Geburt von Tochter Luna und dem schwierigen letzten Jahr habe ich es jetzt wieder intensiviert. Ich glaube, die letztjährigen Verletzungen an Plantarfaszie, Hamstrings und Knie waren auch eine Folge von zu wenig Krafttraining, deshalb mache ich es jetzt wieder sehr konsequent.

Machst du eher Kraftausdauer oder Maximalkraft?

Beides, aber meist mit Freihanteln und Übungen und nicht an Maschinen. Je mehr Gewicht, desto weniger Wiederholungen und umgekehrt. Manchmal mache ich mit der Langhantel und 30 Kilo Gewicht 1000 Squads am Stück.

1000 Kniebeugen!? Das tönt brutal!

(lacht) Nein, nein, es geht, es ist einfach ein Ausdauertraining. Bei rund 10-12 Wiederholungen pro Minute dauert das rund anderthalb Stunden. Mit wenig Gewicht muss man halt viele Wiederholungen machen, mit viel Gewicht weniger.

Wie siehts mit Mentaltraining aus?

Eher weniger. Ich bin schon routiniert, ich weiss, was ich machen muss. Die Arbeit 1:1 im Wald ist für mich wichtiger. Für die Technikarbeit ist mein Mann Rolf Gemperle zuständig, er war früher Schweizer Nationaltrainer.

Was sind deine wichtigsten Charaktereigenschaften?

Ich bin sehr motiviert und zielstrebig und ziehe durch, wenn ich mir etwas vorgenommen habe. Mein Ziel ist es, meine bestmögliche Leistung zu erbringen und nicht die anderen zu schlagen. Wenn ich mein Bestes abliefere, kommt automatisch ein gutes Resultat heraus.

Was sind deine Schwächen?

Ich muss mit meinen Energien haushalten, ich kann nicht eine ganze Saison lang jeden Wettkampf voll laufen.

Vor dem Start bist du immer sehr nervös. Was machst du dagegen?

Ich versuche den Fokus und die Energie aufrecht zu halten, bis es losgeht. Sobald ich dann die Karte in der Hand habe, verfliegt die Nervosität und ich weiss, was ich zu tun habe.

Das nächste grosse Ziel ist die WM in Flims Laax vom 11. bis 16. Juli, wie sieht deine unmittelbare Vorbereitung aus?

Zuerst muss ich es ins Team schaffen. Die Selektionsläufe finden am 22. und 24. Juni statt. Wenn es mir gelingt, gibt es anfangs Juli noch ein viertägiges Trainingslager mit der Nationalmannschaft, danach folgen die letzten Tage mit Ruhe und Erholung – und dann versuche ich für die Schweiz eine Medaille zu gewinnen.