Interview mit Helen Bekele

8. April 2024

Foto: IMAGO

Helen Bekele lebt seit 2016 in Genf, sie ist mit dem ehemaligen Schweizer Spitzenläufer Tesfaye Eticha verheiratet und besitzt seit Februar das Schweizer Bürgerrecht. Bei ihrem ersten sportlichen Einsatz für die Schweiz unterbot die gebürtige Äthiopierin Ende Februar beim Osaka Marathon in 2:25:25 die Olympia-Limite um 85 Sekunden. Mit ihrer aktuellen Marathon-Bestzeit von 2:19:44 Stunden hat die 29-Jährige noch viel Potenzial.

Helen Bekele, seit Februar dieses Jahres kannst du für die Schweiz starten. Was bedeutet dieser Nationenwechsel für dich?

Ich lebe seit rund acht Jahren in der Schweiz und habe mich sehr über die Nachricht gefreut. Als ich für meinen ersten Marathon der Saison nach Osaka reiste, hatte ich zwei Gefühle: Einerseits war ich etwas traurig, weil ich mit dem Nationenwechsel mein Heimatland Äthiopien verloren habe (Äthiopien erlaubt seinen Bürgern keine doppelte Staatsbürgerschaft; Anm. der Redaktion), und andererseits war ich sehr glücklich, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erhalten und das Land, in dem ich seit 2016 lebe, vertreten zu können. Mein Umfeld und meine Familie haben sich sehr für mich gefreut, weil sie wussten, dass die Teilnahme an den Olympischen Spielen für mich ein lang gehegter Traum ist.

Mit dem Nationenwechsel bist du auf Anhieb die schnellste Schweizerin, denn dein persönlicher Rekord (2:19:44 in Berlin 2023) liegt deutlich unter dem aktuellen Schweizer Rekord von Fabienne Schlumpf (2:24:30 in Valencia 2023). Wie wichtig ist dir dieser Landesrekord?

Es ist sehr motivierend für mich, mit Fabienne Schlumpf eine weitere schnelle Schweizer Läuferin als Konkurrentin zu haben, wir können sicher voneinander profitieren. Den Schweizer Rekord zu brechen, wäre eine grosse Anerkennung und würde mich für meine weitere Karriere motivieren. Im Moment habe ich mir darüber aber noch keine Gedanken gemacht, mein momentanes Hauptziel sind die Olympischen Spiele in Paris. Am liebsten würde ich den Rekord vor Schweizer Publikum angreifen, vielleicht beim Zürich Marathon 2025. Ich glaube, dass ich meine Bestzeit noch einmal unterbieten kann und werde hart dafür trainieren.

Wie sieht deine Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Paris aus?

In einem ersten Trainingslager in Äthiopien arbeite ich vor allem an meiner Ausdauer und Kraft. Danach werde ich mich vor den Spielen noch gezielt in St. Moritz vorbereiten, aber auch noch ein paar kürzere Läufe bestreiten und im Juni an der Halbmarathon-EM teilnehmen. Der genaue Plan ist noch nicht definiert. Ich habe nicht vor, zu viele Wettkämpfe zu absolvieren.

Hast du in Paris ein konkretes Resultat vor Augen?

Ein Marathonlauf ist immer unberechenbar, aber ein Ziel ist eine Top-Ten-Platzierung. Eine Olympiamedaille wäre ein Traum.

Je erfolgreicher man ist, desto grösser werden die Erwartungen. Wie gehst du damit um?

Wenn ich mich auf meine grossen Ziele vorbereite, ist immer ein gewisser Druck da. Deshalb konzentriere ich mich auf meine Vorbereitung, um am Wettkampftag fit zu sein und mit Selbstvertrauen zu laufen. Das Ergebnis steht nicht im Vordergrund, da ich die Leistung der Konkurrentinnen nicht kontrollieren kann.

Der Frühling lockt viele Hobbyläuferinnen und -läufer zum Trainingsstart nach draussen. Welche Tipps gibst du ihnen?

Nach einer längeren Pause beginne ich persönlich zuerst mit leichtem Joggen und nur etwa der Hälfte meines normalen Trainingspensums. Dann steigere ich das Trainingspensum von Tag zu Tag. Wichtig ist, dass man nicht gleich mit einer hohen Intensität beginnt, sondern auf seinen Körper und sein Gefühl hört.

Gibt es einen Geheimtipp, den du uns verraten kannst?

Mein Trainingstipp ist, beim Laufen nicht nur schnell zu sein. Wichtig ist auch ein regelmässiges «Footing», also ein lockeres Laufen, vielleicht gewürzt mit drei bis vier kurzen Antritten. So kann man seine Schnelligkeit steigern. Ein weiterer Tipp: Nach einem harten Training mache ich oft ein kleines Nickerchen, um die verbrauchte Energie wieder aufzutanken.