Interview mit Roger Kaufmann
Das Jahr neigt sich langsam aber sicher dem Ende entgegen. Welches sportliche Ereignis hat 2015 deine im Vorfeld getätigten statistischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen am meisten über den Haufen geworfen? Und welche Erklärung hast du dafür?
Die Tatsache, dass bei Sportereignissen im Voraus jeweils (fast) alle Ausgänge möglich sind, macht einen grossen Teil ihres Reizes aus. Bei den Millionen von Veranstaltungen weltweit ist es nur logisch, dass es immer mal wieder riesige Überraschungen gibt. Typischerweise sind es dann diese Geschichten, die von den Medien als „Sensation“ aufgegriffen werden und sich in unseren Köpfen festsetzen. Am intensivsten verfolgt man dabei natürlich immer die Geschehnisse im eigenen Umfeld. Australier sprechen zum Beispiel heute noch vom Short Track Eisschnelläufer Steven Bradbury, der 2002 nur deshalb Olympiasieger wurde, weil im Halbfinale und Finale jeweils all seine Konkurrenten stürzten. Zum Video
Bei mir persönlich sind es aktuell die sehr erfreulichen Meldezahlen beim Neujahrsmarathon, die mich als OK-Präsidenten positiv überraschen. Dass wir vor zwei Jahren anlässlich der 10. Austragung einen Teilnehmer-Zuwachs von 30% verzeichnen durften, liess sich anhand des 10-Jahre-Jubiläums erklären. Dass die Meldezahlen jedoch letztes Jahr auf demselben Niveau blieben und wir aktuell im Vorjahresvergleich nochmals bei rund +20% stehen, konnte so nicht erwartet werden. Mögliche Erklärungen gibt es natürlich immer viele, aber das wäre im Einzelfall nicht viel wertvoller als die nachträglichen Kommentare von „Börsen-Experten“ nach einem Crash.
Sehr beeindruckend sind deine genauen Prognosen, die du auf deiner Webseite oder in deiner App für Laufstrecken und ausgewählte Wettkämpfe anbietest. Wie bist du auf diese Abhängigkeiten gestossen und was rätst du den Läuferinnen und Läufern für ihre nächsten Wettkämpfe?
Während meines Mathematik-Studiums an der ETH Zürich wurden in einer Vorlesung als Beispiel für statistische Daten die Zeiten von Läufern über verschiedene Distanzen verwendet. Dabei fiel rasch auf, dass bei einer Verdoppelung der Distanz die Geschwindigkeit jeweils um einen Faktor X abnahm Dieser Faktor X war immer gleich gross, egal ob man z.B. 1 km- mit 2 km-Zeiten oder 5 km- mit 10 km-Zeiten verglich. Als Marathonläufer faszinierte mich diese Tatsache, so dass ich sie in eine mathematische Formel umwandelte, die mittlerweile auf meiner Homepage oder auch in einer noch ausgeklügelteren Form als iPhone App verfügbar ist.
Diese Berechnungen ersetzen natürlich kein Training, helfen aber, die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen und beim Wettkampf vom ersten Meter an das optimale Tempo anzuschlagen. Besonders freut mich natürlich, wenn ich erfahre, dass Profis wie Viktor Röthlin oder im Falle meiner Fussball-Berechnungen der damalige Nati-Coach Köbi Kuhn diese Tools und Erkenntnisse für ihre Zwecke einsetzen.
Mit dem Neujahrsmarathon hast du 2005 einen speziellen Event ins Leben gerufen: Jedes Jahr wird an deinem Marathon eine Jahresweltbestzeit aufgestellt. Wie ist diese Idee entstanden?
Als Läufer mit bis dahin bereits 20 Jahren Wettkampferfahrung empfand ich es immer als sehr angenehm, mich bei einem Lauf eigentlich um nichts kümmern zu müssen. Man fährt hin, holt die Startnummer ab, läuft, duscht und fährt anschliessend wieder nach Hause. Meist erhält man gar noch ein Erinnerungsgeschenk obendrauf. Nach mehreren hundert Laufteilnahmen wollte ich der „Läuferwelt“ etwas zurückgeben und irgendwann selbst einen Lauf organisieren. Dieser sollte aber nicht einfach einer von vielen sein, sondern ein ganz spezieller. Als ich schliesslich mal im Januar von einer Jahresweltbestleistung im Stabhochsprung hörte, dachte ich mir: „Das wird wohl der erste sein, der dieses Jahr überhaupt gesprungen ist.“ Und schon war die Idee geboren: Beim weltweit ersten Marathonlauf des Jahres läuft der Sieger automatisch eine Jahresweltbestleistung. Also stellte ich diesen gemeinsam mit einigen meiner laufsportbegeisterten Kollegen auf die Beine.
Seit einigen Jahren bist du auch als Streckenvermesser tätig. Kannst du uns erklären, wie so eine Vermessung abläuft? Wo sind die Schwierigkeiten? Was weiss der Laie nicht?
Dass es so etwas wie einen Streckenvermesser überhaupt gibt, und wie dieser genau vorgeht, wusste ich vor dem Neujahrsmarathon noch nicht genau. Als ich mich jedoch schlau machte, was es alles braucht, um die Leistungen beim Neujahrsmarathon von der IAAF offiziell anerkennen zu lassen, stiess ich schnell auf den Job des Vermessers. Eigentlich wollte ich einen solchen für die Vermessung unserer Strecke buchen. Doch damals gab es in der Schweiz noch keinen mit der entsprechenden Qualifikation. Also beschloss ich, dies selbst in die Hand zu nehmen. Inzwischen bin ich der einzige von der IAAF anerkannte Streckenvermesser der Schweiz und hatte u.a. auch die Ehre, die EM-Marathonstrecke in Zürich zu vermessen.
Da eine Vermessung mit Navigationsgeräten, GPS-Uhren oder ähnlichem leider viel zu ungenau wären, gestaltet sich eine Streckenvermessung sehr aufwendig: Das wichtigste Hilfsmittel ist ein normales Fahrrad, bei welchem am Vorderrad ein „Jones Counter“ genanntes Gerät montiert wird, welches pro Radumdrehung rund 24 Einheiten zählt. Bevor die eigentliche Vermessung beginnen kann, muss eine 500 Meter lange, schnurgerade „Eichstrecke“ angelegt werden. Dies geschieht mit einem Stahlmessband und als weiteren Hilfsmitteln einer Federwaage und einem Thermometer. Letztere werden dazu verwendet, um das Messband mit der richtigen Kraft zu ziehen resp. um das temperaturbedingte Zusammenziehen/Ausdehnen des Messbandes korrigieren zu können. Ist die Eichstrecke einmal angelegt, so wird diese viermal mit dem Fahrrad abgefahren und die Counter Einheiten notiert. So ermittelt man, wie viele Zählereinheiten einem Kilometer entsprechen. Damit eine Laufstrecke nicht zu kurz ausfällt, wird zudem pro Kilometer ein Meter addiert. Dies verhindert, dass sich z.B. bei der Nachvermessung nach einem Marathon-Weltrekord die Strecke als zu kurz herausstellt, was überaus peinlich wäre.
Ungünstig ist, wenn während der Vermessung die Lufttemperatur allzu stark schwankt. Denn durch eine Temperaturänderung ändert sich auch der Radumfang. Um dies zu überprüfen, wird nach der Vermessung der Marathonstrecke auch die Eichstrecke nochmals abgefahren. Unterscheiden sich die Werte der Eichstrecke vor und nach der Vermessung zu stark, so muss die ganze Vermessung wiederholt werden, was angesichts des grossen Zeitaufwandes von rund 4 Stunden extrem ärgerlich wäre.
Vermessen wird eine Laufstrecke immer auf dem kürzest möglichen Weg, wobei in den Kurven ein Abstand von 30 cm zum Randstein einzuhalten ist. Die bei grossen Marathonläufen oft auf den Asphalt gemalte „Blue Line“ hat hingegen nicht viel mit der Vermessung zu tun. Meist verläuft sie deutlich ausserhalb der Ideallinie und dient nur der groben Orientierung der Läufer.
Foto: ZVG
Wir danken Roger Kaufmann für die spannenden Antworten.
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